News

Nach der „Rassenhygiene“: Forschungsteam untersucht Methoden der Humangenetik von 1949 bis 1965

Doktorand Lukas Alex und Prof. Dr. Isabel Heinemann vom Historischen Seminar untersuchen die Wissensgeschichte der Humangenetik in der frühen Bundesrepublik (Foto: WWU/P. Leßmann)

Münster (upm) - Meterweise Regale voller Akten hat Otmar von Verschuer (1896 – 1969) hinterlassen – und reichlich Fragezeichen. Im Nationalsozialismus der führende Vertreter der „Rassenhygiene“, konnte er 1951 als Leiter des neuen Instituts für Humangenetik der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster seine Forschung fortsetzen. Eine Expertenkommission der Hochschule hat 2012 seine Berufung nach Münster als Teil der Universitätsgeschichte kritisch beleuchtet. Mit Drittmitteln initiierte Otmar von Verschuer unter anderem ein „Genetik-Register“, das in der Historiographie gemeinhin als gescheitert gilt. Dieses Etikett erfüllte einen Zweck, wie Historikerin Prof. Dr. Isabel Heinemann erläutert: „Es sollte eine Zäsur zur NS-Zeit markieren und diente der jüngeren Forschergeneration als Legitimation.“ Fragen nach längeren Denkmustern habe es jedoch zugedeckt. Solche Fragen stehen nun im Mittelpunkt des Projekts „Bevölkerung, Familie, Individuum: Wissensgeschichte der Humangenetik in der frühen Bundesrepublik 1949 – 1965“, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für einen Zeitraum von drei Jahren fördert.

„Die 1950er- und 60er-Jahre werden als eine Art Übergangszeit wahrgenommen“, erläutert Lukas Alex. Der Doktorand untersucht neben den konkreten Forschungen der Humangenetiker auch deren gesellschaftspolitische Rezeption. Neben Otmar von Verschuer stehen drei weitere Humangenetiker und ihre Institutionen im Fokus des Projekts: Hans Nachtsheim in Berlin, Fritz Lenz in Göttingen und Wolfgang Lehmann in Kiel. Sie haben an entscheidender Stelle die „Rassenhygiene“ des Nationalsozialismus geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sie ihre Karrieren fort und standen in den 1950er-Jahren den einzigen humangenetischen Forschungsstätten in der BRD vor. „Wir untersuchen, wie sich die NS-Leitwissenschaft der ,Rassenhygiene‘ nach 1945 zu einer gesellschaftlich akzeptierten Humangenetik entwickeln konnte“, sagt Isabel Heinemann.

An die Archivalien für diese Arbeit heranzukommen, sei nicht immer leicht, „Patientenakten sind sensibel.“ Zudem ist vieles nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist bereits vernichtet. „In Münster haben wir jedoch ein Riesenglück, dass man den Wert erkannt und 37 laufende Meter Material aufbewahrt hat“, betont Lukas Alex. „Sie geben einen seltenen Einblick in die humangenetische Wissensproduktion der Nachkriegsjahre.“ Neben den Akten aus Universitätsarchiven arbeitet er mit Material aus dem Archiv der Max-Planck-Gesellschaft und aus Privatarchiven.

Mit der Strahlen- und Chromosomenforschung gewann die Humangenetik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung, doch die Sorge vieler Menschen vor „minderwertigem Erbgut“ hielt sich, unterstreicht Isabel Heinemann. „Biologistisches Denken herrschte bis weit in die 60er-Jahre hinein. Die Nationalsozialisten haben das rassistische Denken zu einem Grundsatz ihres Staates gemacht, vorhanden war es in der Gesellschaft jedoch schon vorher.“ An die Seite der Sorge um die vermeintliche Leistungsfähigkeit künftiger Generationen trat Mitte der 1950er-Jahre der Bevölkerungsschutz. „Das Atomministerium hatte wesentlichen Anteil an der Einrichtung eines ,Genetik-Registers‘ in Münster“, betont Lukas Alex.

Die Wissenschaftler nutzten diese Finanzierung und Legitimierung auch, um an neue Untersuchungspersonen zu gelangen. „Von der Illusion einer Totalerfassung mussten sie sich jedoch verabschieden.“ Immerhin: Verschuers Assistentinnen überprüften über vier Millionen Krankenhaus- und Fürsorgeakten zu verschiedenen Krankheiten. „Dieses System hatte jedoch Schwächen, es kam oft zu Fehldiagnosen“, berichtet Lukas Alex. Bei der Gewinnung der Daten umging Verschuer die ärztliche Schweigepflicht. „Für seine Zwillingsstudien gaben die Familien ihm sogar bereitwillig Auskunft, teils über Jahrzehnte hinweg“, unterstreicht Isabel Heinemann. Ihr Doktorand, der just von einem Archivaufenthalt in Berlin zurückgekommen ist, ergänzt: „Die Geschichte der Humangenetik ist eben immer auch eine Geschichte des Zugangs zu Patientendaten.“

Autorin: Brigitte Heeke (Unizeitung wissen|leben Nr. 8/2022)

This could be interesting for you too: