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Hemmungslosigkeit verursacht Chaos im Kopf: Grundlagen hemmender Signale im Gehirn entschlüsselt
Münster (mfm/tb) - Was für zwischenmenschliche Beziehungen gilt, trifft auch beim menschlichen Gehirn zu: Hemmungslosigkeit verursacht Chaos. Läuft die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen im Gehirn „ungehemmt“, drohen daher gravierende Fehlfunktionen: Epilepsie, Angsterkrankungen, Schizophrenie und andere neuropsychiatrische Krankheiten können die Folge sein. Eine Forschungsgruppe um den Mediziner Prof. Dr. Weiqi Zhang von der Universität Münster hat zusammen mit Hirnforschern aus Göttingen und Frankfurt hierzu eine wichtige Entdeckung gemacht: Die Wissenschaftler konnten die molekularen Grundlagen der hemmenden Signalübertragung im Gehirn entschlüsseln. Von ihren Erkenntnissen, veröffentlicht in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift „Neuron“ [Heft vom 10.09.2009], erwarten die Forscher auch neue Möglichkeiten für die Therapie.
Die Augen sind verdreht, der Körper verkrampft sich rhythmisch, die Atmung setzt zeitweise aus und Schaum tritt vor den Mund - ein großer epileptischer Anfall ist sowohl für Betroffene als auch für Augenzeugen erschütternd. Seine Ursache liegt in einer unkontrollierten Erregung der Nervenzellen im Gehirn. Allerdings ist häufig nicht die übermäßige Erregbarkeit der Nervenzellen das Grundproblem, sondern eine Störung der hemmenden Signalübertragung.
Der Austausch von Informationen zwischen Nervenzellen im Gehirn erfolgt über so genannte Synapsen. An diesen mikroskopisch kleinen Zellstrukturen treten sendende und empfangende Zellen miteinander in Kontakt. Zur Signalübertragung schüttet die elektrisch erregte „Senderzelle“ Botenstoffe - Fachbegriff: Neurotransmitter - aus, die sich an spezialisierte Eiweißarten (Rezeptorproteine) auf der Oberfläche der Empfängerzelle binden und deren Erregung steuern. Das Gros der Synapsen im menschlichen Gehirn ist erregend. Das heißt: Hier löst die Informationsübertragung meist elektrische Entladungen auf Seiten der Empfängerzelle aus, so genannte Aktionspotentiale, mit deren Hilfe das Gehirn Informationen „weiterleitet“. Ergänzt wird das Nervenzell-Netzwerk erregender Synapsen durch ein hemmendes Synapsensystem. Es kontrolliert die Erregbarkeit des Gehirns, stimmt Hirnbereiche aufeinander ab und beeinflusst maßgeblich die Informationsverarbeitung im Gehirn.
Hemmende Synapsen im menschlichen Nervensystem verwenden hauptsächlich die Neurotransmitter GABA und Glycin. Auf der empfangenden Seite besitzen sie bestimmte Rezeptorproteine, die auf genau diese Botenstoffe spezialisiert sind und deren Aktivierung dazu führt, dass die Empfängerzelle nicht mehr oder nur sehr schwer erregt werden kann. Bisher war unklar, wie die hemmenden Synapsen, von denen es im menschlichen Gehirn viele Milliarden gibt, entstehen und wie sie mit den „richtigen“ Rezeptorproteinen für GABA und Glycin ausgestattet werden.
Hier setzen die Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppen um Prof. Dr. Weiqi Zhang (Labor für Molekulare Psychiatrie an der Klinik für Psychiatrie des Universitätsklinikums Münster), den Hirnforscher Dr. Frédérique Varoqueaux vom Göttinger Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin sowie ihren Frankfurter Kollegen Prof. Dr. Heinrich Betz vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung an: Die Wissenschaftler entdeckten einen Schlüsselmechanismus, der für die passende Ausstattung von GABA- und Glycin-Rezeptoren an hemmenden Synapsen verantwortlich ist. "Unsere Arbeiten zeigen, dass das Protein Neuroligin-2 bei der Entstehung hemmender Synapsen eine kritische Rolle spielt", erklärt Zhang. "Neuroligin-2 ist ein Zelladhäsionsprotein. Seine Funktion ähnelt der eines Klettverschlusses: Es ermöglicht, dass der sendende Teil der Synapse mit dem empfangenden Bereich Kontakt aufnehmen kann. Innerhalb des Empfängerteils der Synapse binden sich die Neuroligin-2-Moleküle an zwei wichtige Gerüstproteine, Collybistin und Gephyrin, die ihrerseits die Verankerung von GABA- und Glycin-Rezeptoren übernehmen."
Wie die Forscher herausfanden, sind alle drei Proteine - Neuroligin-2, Collybistin und Gephyrin - für die Entstehung von hemmenden Synapsen unverzichtbar. "Schaltet man die entsprechenden Gene in Mäusen aus, wird die Ausbildung dieser Synapsen fundamental gestört", so die Göttinger Hirnforscherin Voroqueaux. Die Wissenschaftler konnten Mäuse genetisch so verändern, dass diesen die Fähigkeit zur Erzeugung von Neuroligin-2 oder Collybistin fehlt. Hierdurch waren auch die hemmenden Synapsen in verschiedenen Hirnbereichen der Tiere nicht mehr korrekt mit den passenden GABA- und Glycin-Rezeptoren ausgestattet. "Die Folgen sind eine stark erhöhte Neigung zu Angstverhalten und eine extrem gesteigerte Erregbarkeit des Gehirns“.
Die Forschergruppe um Zhang, Varoqueaux und Betz hat mit ihrer Arbeit nicht nur eine fundamentale Frage der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung geklärt. „Studien verschiedener Kollegen zeigen, dass eine genetisch verursachte Störung des von uns untersuchten Proteinnetzwerks beim Menschen zu Epilepsie führen kann“, berichtet der Hirnforscher Zhang. Er ist wie seine Kollegen deshalb davon überzeugt, dass die neue Entdeckung von großer medizinischer Bedeutung sein wird. Dr. Varoqueaux dazu: "Der von uns beschriebene Mechanismus bestimmt, wie gut eine hemmende Synapse funktioniert. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Störung dieses Prozesses bei verschiedenen Epilepsie-Formen eine Rolle spielt, und möglicherweise gilt das auch bei Angststörungen, Schizophrenie und anderen Hirnerkrankungen“. Die Forscher wollen sich deshalb nun der Frage widmen, wie die Entstehung hemmender Synapsen reguliert und ob der Prozess für therapeutische Zwecken beeinflusst werden kann.
Originalpublikation:
Alexandros Poulopoulos, Gayane Aramuni, Guido Meyer, Tolga Soykan, Mrinalini Hoon, Theofilos Papadopoulos, Mingyue Zhang, Ingo Paarmann, Céline Fuchs, Kirsten Harvey, Peter Jedlicka, Stephan W. Schwarzacher, Heinrich Betz, Robert J. Harvey, Nils Brose, Weiqi Zhang und Frédérique Varoqueaux: Neuroligin 2 drives postsynaptic assembly at perisomatic inhibitory synapses through Gephyrin and Collybistin. Neuron, 10. September 2009. Online-Link: https://dx.doi.org/10.1016/j.neuron.2009.08.023