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In memoriam Prof. Hermann Bünte - persönliche Erinnerungen an einen Großen der Chirurgie

Beim Papst-Besuch 1987 im Münster trafen sich Prof. Hermann Bünte (r.) und sein ehemaliger Patient Johannes Paul II. wieder. Mit dabei war auch der münstersche Bischof Reinhard Lettmann (m.) (Foto: W. Schröder)

von Prof. Martin Langer

Als im Herbst 1984 mein Medizinstudium in Münster begann, ahnte ich noch nicht, dass ich 37 Jahre später immer noch an der Uniklinik Münster tätig sein würde - und dass Prof. Hermann Bünte (wie bei vielen anderen) der entscheidende Grund für eine Entscheidung zugunsten der Chirurgie werden würde. Zu Schulzeiten hatte mir ein Biologiestudent gesagt, dass die Mediziner die beste Grundlagenausbildung bekämen und dass es sehr vorteilhaft sei, wenn man bei ihnen Kurse belegen könne. Mit der Aussicht, als Biologe entweder als Lehrer oder im Labor zu enden, jedenfalls nicht, wie erhofft, als „Forscher im Urwald“, bewarb ich mich für Medizin, ohne konkrete Vorstellungen, wohin die Reise fachlich gehen sollte.

In der Vorklinik hörte man ab und zu Gerüchte über die Kliniker, über ihr Können, ihre Bekannt- und Beliebtheit, und sicherlich ist so auch an meine Ohren gekommen, dass „Prof. Bünte den Papst operiert hat“. Ich habe mir aus solchen Erzählungen nichts gemacht, weil niemand etwas Genaues wusste. Wichtig für mein Interesse an der Chirurgie war stattdessen eine grandiose Anatomie-Vorlesung von Prof. Erwin Brug über die Handchirurgie. Eine feine, saubere und exakte Chirurgie. Da das „Filigrane“ mir schon immer große Freude bereitet hat und ich gerne anatomisch zeichnen wollte, sah ich mich schon in der Vorklinik in der Handchirurgie um.

Nach dem Physikum wollte ich allmählich mit der Doktorarbeit beginnen, am liebsten in der (Hand-)Chirurgie. Frohgemut machte mich also auf zum Vorzimmer von Prof. Brug, der aber noch im OP war und dessen schlecht aufgelegte Sekretärin mich achtkantig herauswarf. Hier auf gar keinen Fall, sagte ich mir und wollte in die Flure der Oberärzte, um dort zu fragen. Durch Bauarbeiten zu Umwegen gezwungen, fand ich mich in einem mir unbekannten Flur wieder. An der nächstgelegenen Tür stand „Prof. Bünte - Klinikdirektor“. Oh, der oberste Chef, dachte ich mir und wollte mich gerade davonschleichen, als plötzlich die Tür aufging und der Büroinhaber vor mir stand - ein zufälliger Kontakt von wenigen Augenblicken, der meine Laufbahn prägte.

Bünte war etwa 1,85 cm groß, schlank, ein Mann mit sehr wachen blauen Augen. „Was suchen Sie?“, fragte er höflich. „Ich wollte nach oben, mir einen Doktorvater suchen.“ „Zu welchem Thema?“  „Gern eines, bei dem ich viel zeichnen kann.“  „Haben Sie eine Mappe dabei?“ „Ja …“ Wieso ahnte er das? Ich kramte die mitgebrachten Zeichnungen aus der Anatomie hervor. Er blätterte sie in Ruhe durch und gab mir die Mappe zurück. „Kommen Sie in 14 Tagen wieder - Sie haben eine Doktorarbeit.“

Zu dem Treffen hatte er eine Liste vorbereitet, aus welchen Bereichen er Zeichnungen von Operationen bräuchte, um damit Radiologen postoperative Zustände nahezubringen. Ich sollte mir schon einmal die pathologische Anatomie anschauen und häufig mit in den OP kommen. Letztlich ist aus diesem Projekt nichts geworden, aber es avancierte zum Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit. Kurz vor den Semesterferien stand ich 1987 zum ersten Mal bei Prof. Bünte im Operationssaal. Es war eine Schilddrüsenoperation, an einem Freitag. Prof. Bünte erklärte mir einige Dinge und ich hatte meinen Skízzenblock dabei: Hautschnitt bis zu den Halsvenen (10 sek), Unterbindung der Venen, die im Weg waren (20 sek), Anlegen von Klemmen mit „Strumagewichten“, die beim Anästhesisten abgegeben wurden und das lästige Hakenhalten ersparten (40 sek), Präparation an den Muskeln vorbei zur Schilddrüse (1 min). Bis dahin kein Tropfen Blut. Dann, etwas langsamer, Präparation der Schilddrüse und der Gefäße sowie Unterbindung der zuführenden Gefäße (5 min). Immer noch kaum ein Tropfen Blut. Die Schilddrüse war sehr gut zu sehen und man erkannte die Pathologie. Dann Resektion des Großteils der vergrößerten Schilddrüse und Belassen der kurz dargestellten Recurrens-Nerven und der Nebenschilddrüsen, die natürlich unbeschadet blieben. Verschluss der Schilddrüsenkapsel (insgesamt 10 min), Rückzug, Hautverschluss (8 min). Aha, so einfach geht das also.

Am folgenden Montag begann meine erste Famulatur in der Chirurgie, Schauplatz: ein Krankenhaus meiner Heimatregion. Auf dem OP-Plan, zu meiner großen Freude: eine Schilddrüsen-Resektion. Kenne ich schon, macht Spaß. Ich durfte als Hakenhalter direkt an den Tisch. Hautschnitt – Blut, Blut, Blut, Blutstillung. Hautschnitterweiterung – Blut, Blut, Blut, Blutstillung (10 min). Unterbindung der Venen, dabei Blutungen (10 min). Langsam in die Tiefe – Blut, Blut (10 min). Man sieht immer weniger, weil alles rot ist. Dann noch tiefer - Blut, Blutstillung ... Nach über einer Stunde an der Schilddrüse. Hektik, Unterbindung von fraglichen Gefäßen, ohne diese wirklich zu sehen – blind, Blut, Hektik, man sieht nichts, erkennt nichts, der Operateur schwitzt und macht blind weiter; das, was Schilddrüse sein könnte, wird im Blut herausgeschnitten ohne Sicht. Mir ist schlecht, ich lasse mir aber nichts anmerken. Dann Rückzug, bis zur Hautnaht sind über zwei Stunden vergangen und ich bin mit den Nerven völlig fertig. Der Operateur verkündet stolz, das habe doch sehr prima geklappt. „Sehen Sie, so macht eine Schilddrüsenoperation“, lächelt er.

Nein, so wollte ich das nicht lernen. Ich freute mich auf die Rückkehr nach Münster nach der Famulatur. Zeichnungsentwürfe schaute sich Bünte umgehend an und gab sein fachliches Urteil ab. Nein, so darf man die Klemme nicht setzen, dann kann dies und jenes passieren, dies hier muss 5 mm weiter nach kranial, denn dahinter ist das und das ... Das waren die lehrreichsten Zeiten meines Studentenlebens. Die Erfahrung (auch bei späteren Projekten wie dem Handchirurgie-Buch von Brug/Rieger): Korrekturen sind zwar ärgerlich für den Zeichner, aber wenn sie von absoluten Profis kommen, auch lehrreicher als alles andere für einen angehenden Chirurgen.

Wichtig waren Bünte vor allem die Grundlagen: Anatomie, Biochemie, Physiologie, Pathologie. In dieser Hinsicht kam er immer wieder mit den Studierenden in Konflikt, die sich natürlich mehr Praxis wünschten. Der Klinikdirektor, den Studenten ansonsten sehr zugetan, blieb hier eisern. Im Nachhinein weiß ich, dass er damit Recht hatte.

Eine von Prof. Büntes „Lieblingsoperationen“ war sicher die Schilddrüse. Ein schwedischer Gastarzt war eigens deshalb zu ihm gekommen. Er platzierte sich beim Anästhesisten und nahm nach kurzer Zeit die Strumagewichte entgegen, zu dessen Bedeutung er sich genau erkundigte. Der Anästhesist erklärte ihm alles. Als der Schwede sich wieder Bünte zuwandte, verabschiedete der sich bereits- die Strumaoperation war bis auf die Hautnaht, die er dem Assistenten überließ, fertig.

Noch lieber waren ihm die retrosternalen Strumen, also die Schilddrüsenvergrößerungen, die bis hinter das Brustbein reichten. Bevor das Brustbein eröffnet wurde (Sternotomie), musste Prof. Bünte gerufen werden, denn der schaffte es immer, mit seinen Fingern die Schilddrüse aus der Tiefe hervorzuholen, ohne dass die Sternotomie aufwändig und schmerzhaft wurde. Wenn eine solche Struma auf dem OP-Plan stand und er nicht als 1. Operateur eingetragen war, war Prof. Bünte gleichwohl früher als sonst im OP-Trakt zu sehen - und freute sich diebisch, wenn er doch gerufen und die OP dadurch verkürzt wurde.

Bünte war bekannt für seine Schnelligkeit – die aber nie hastig oder übertrieben, sondern schlicht das Ergebnis einer zügigen, schnörkellosen, gezielten Chirurgie war. Ein Student, der ihm mit den Worten „Herr Professor, sie operieren sooo schnell“ schmeicheln wollte, entgegnete er: „Ich bin nicht schnell. Ich lasse nur die überflüssigen Bewegungen weg.“

Aber noch einmal zurück in meine berufliche Chronologie: Nach dem Studium bekam ich als Büntes letzter Doktorand auch eine Stelle als Arzt im Praktikum (AIP). Erst mit einem solchen festen Platz in der Struktur bekommt man den wahren inneren Charakter einer Einrichtung mit: Prof. Bünte war im gesamten Haus, von der Reinigungskraft bis zum leitenden Oberarzt, beliebt, geachtet und verehrt. Keiner, der ihn etwas näher kannte, sagte je ein böses Wort über ihn. Vor Prof. Bünte brauchte niemand Angst zu haben und man war dankbar, mit ihm in derselben Klinik arbeiten zu können. Wenn es ein Problem gab, löste er es schnell und weise für jede und jeden. Seine Antworten waren meist kurz und auf den Punkt, bei den Operationen wurde alles Unwichtige weggelassen – „kurz und büntig“ wurde zum geflügelten Wort im Haus. Die Logik hinter seinen Äußerungen war absolut einleuchtend und seine stringente Denkweise führte in der Klinik zu teils erstaunlichen Vereinfachungen, die viele Abläufe rationeller und rationaler machten.

Die Operationen mit ihm dauerten wirklich nicht lange, aber man hatte nicht das Gefühl, dass gegen die Zeit operiert wurde. Jeder Schnitt, jeder Handgriff war genau platziert und dosiert. Dies führte auch zu einer sehr geringen Komplikationsrate, über die sich viele der erfahrenen Oberärzte wunderten: „Es ist mir ein Rätsel, wie er das macht.“ Diese Satz habe ich häufig von den Oberärzten - die selbst ausgezeichnete Operateure waren - gehört. Viele schwierige Fälle, an die sich niemand mehr herantraute (Stichwort: „Betonbauch“), operierte er schnell und sicher, ohne dass dabei der Darm beschädigt wurde. Viele „hoffnungslose Fälle“ kamen von weit her. Bis heute ist Prof. Bünte einer der besten Operateure, die ich je erleben durfte.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich ihm im OP gegenübergestand, er mit der Hand in den gerade knapp eröffneten Bauch glitt und das Innere untersuchte. Er schaute dabei immer sehr konzentriert etwas nach oben ins Leere und die OP-Lampe ließ seine etwas zusammengekniffenen hellblauen Augen über dem Mundschutz leuchten – magische Momente, so als ob eine Art Datenübertragung über seine Finger stattfand, denn hier wurde genauestens untersucht und parallel schon entschieden, wie die Operation auszusehen hätte.

Wie gut die chirurgischen Fähigkeiten von Prof. Bünte wirklich waren, zeigt das Urteil von Kolleginnen und Kollegen. So verfielen nach einer portokavalen Anastomose bei einer jungen Frau, die Prof. Bünte innerhalb von 45 Minuten operierte, drei anwesende Gastärzte in ungläubiges Staunen. Der Erfahrenste unter ihnen murmelte: „I can´t believe it. I was a guest of Cooley and DeBakey and have watched them both performing this operation, but not as perfectly in as short time. Incredible. If I had not seen this with my own eyes, I would not believe it.” Für Nicht-Mediziner: Denton Cooley und Michael Ellis DeBakey waren die damals berühmtesten Allgemein- und Gefäßchirurgen.

Als Mensch war Prof. Bünte äußerst bescheiden, stand ungern in der Öffentlichkeit, musste sich auch in der Chirurgischen Gesellschaft nicht profilieren. Privat zog er normale Gaststätten exklusiven Veranstaltungen vor, sprach mit jedermann und jederfrau („Man muss doch auch die Vox populi hören“). Für Obdachlose hatte er ein besonderes Herz; wenn die an seine Tür kamen, gab er ihnen nicht selten größere Summen. Gelegentlich kam es vor, dass einfache Leute sich an der Klinikpforte meldeten und sagten, sie sollten sich bei einem gewissen „Hermann“ melden, der habe sie untersucht und gesagt, dass man operieren müsse und er könne dies übernehmen. Dass dieser „Hermann“ der Chef war, der berühmte Chirurg, den der Vatikan zur Behandlung des Papstes nach dem Attentat 1981 nach Rom einfliegen ließ, wusste niemand aus der Kneipe, niemand von den einfachen Menschen, die zu uns kamen.  Und er redete auch nur selten darüber.

Wenn ein Assistent etwas falsch gemacht hatte, reagiert er anders als viele andere Vorgesetzte in der damals noch sehr hierarchisch geprägten Medizin. Statt zu explodieren, zu bestrafen oder gar mit Kündigung zu drohen, meinte Prof. Bünte nur: „Äh…“ - so begann er oft Sätze - „ … das müssen wir ihm noch mal zeigen …“ Er meinte damit: Wir haben ihn noch nicht gut genug ausgebildet, das müssen wir besser machen. Gegenüber Patienten wurde nicht gelogen oder schöngefärbt. „Sagt immer die Wahrheit, aber mit der bestmöglichsten Prognose“, war Büntes Credo. Damit fuhren - und fahren - Ärztinnen und Ärzte immer richtig.

Als ich 1996 an die Universität Erlangen ging (in die Hand- und Plastische Chirurgie), von wo Bünte 23 Jahre zuvor gekommen war, erinnerten ihn dort alle älteren Mitarbeiter - und das waren noch mindestens 20 - sehr gut. Er war hoch geachtet und verehrt. Das Team hatte zutiefst gehofft, dass Prof. Bünte als Nachfolger von Prof. Hegemann nach Erlangen zurückkehren würde, aber er hatte sich für Münster entschieden.

Nach seiner Emeritierung 1996 behielt Prof. Bünte ein Emeritus-Zimmer unter dem Dach in der 4. Etage. Dorthin kam er jeden Vormittag noch viele Jahre lang, wohl bis 2008. Er war damals auch noch Ombudsmann des Klinikums. Auf die Frage, warum er denn nicht einfach zuhause bleibe, entgegnete er: „Ich war 40 Jahre lang vormittags nie zuhause und weiß gar nicht, was meine Frau in dieser Zeit macht. Vielleicht singt sie laut oder hört laut Musik, die ich nicht mag. Wenn ich jetzt immer daheim wäre, könnte sie das nicht mehr machen und das ist nicht gut. Also komme ich hierher.“

Eine meiner Lieblingsanekdoten bezieht sich auf eine Senatssitzung. Zeitweilig als Dekan amtierend, musste Bünte solche Termine wahrnehmen. In der gemeinten Runde nahm eine Diskussion mit den Geisteswissenschaftlern kein Ende – immer wieder neue Redebeiträge, immer wieder neue akademische Exkurse. Dann hebt Bünte die Hand. Der Vorsitzende: „Da haben wir noch eine Wortmeldung aus der Medizinischen Fakultät – bitte, Herr Bünte.“ Der Aufgerufene, mit fränkischem Dialekt: „Äh, i wollt nur sagen, i wär dann jetscht beschlussfähig.“

Ich kenne keinen Kollegen, der Prof. Bünte näher kennen lernen durfte und auf den danach nicht wenigstens etwas abgefärbt hätte. Bei den meisten Menschen in seinem Umfeld hat er viel mehr verändert.  Er selbst bezeichnete sich anlässlich des 85. Geburtstages als „ziemlich normal“ , aber tatsächlich war er eine äußerst charismatische Gestalt, mit einem ungeheuren klinischen Gespür für Erkrankungen und Pathologien, einer unglaublichen Geschicklichkeit, der Fähigkeit zur Vereinfachung von Komplexem, Dabei war er eher wortkarg, was mitunter falsch ausgelegt wurde. So wie von einer Patientin, die ihm bei der Visite sagte: „Lieber Herr Professor, ein bisschen freundlicher würde noch nicht an Zärtlichkeit grenzen.“ „Das saß tief“, reflektierte er in der Rede zum 85-sten. Danach habe ich ihn nur noch sehr selten in der Klinik gesehen. Einen harmlosen Hauttumor konnte ich ihm ambulant entfernen, dabei erzählte er von seinen neuesten Zeichnungen und Zeichentechniken. Der 90. Geburtstag fiel in die Corona-Zeit. Nun ist ein ganz Großer der Chirurgie endgültig abgetreten - aber sein Erbe lebt in seinen „Schülerinnen“ und „Schülern“ weiter.

Prof. Martin Langer, heute stellvertretender Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum Münster, war Büntes letzter Doktorand (1987-1992), arbeitete unter ihm von 1992 bis 1995 als Assistenzarzt und war sein vorletzter Privatassistent.

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