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Interdisziplinäre und vielschichtige Forschung – WWU-Medizin untersucht Corona-Pandemie auf vielen Ebenen

Für sie ist die Pandemie auch weiterhin ein Thema: Dekan Prof. Frank Ulrich Müller (r.) mit Prof. Alexander Mellmann, Direktor des Institutes für Hygiene und als solcher einer vielen Corona-Forschenden an der Medizinischen Fakultät (Foto: WWU/Erk Wibberg)

Münster (mfm/jg) – Pandemie vorbei? Nicht in der Forschung: Rund dreieinhalb Jahre nach Beginn der Corona-Krise untersucht die Westfälische Wilhelms-Universität (WWU) Münster das Virus und die Pandemie weiterhin in zahlreichen Einzelprojekten und interdisziplinären Kooperationen – vorne mit dabei: die Medizinische Fakultät in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum (UKM).

Sie gleicht einem weitläufigen, dicht verzweigten Wurzelgebilde. „Um die Corona-Forschung der medizinischen Fachbereiche vollständig zu umreißen, ist sie zu komplex“, folgert daher Prof. André Karch, Leiter der klinischen Epidemiologie. „Dennoch kann man grob drei Schwerpunkte identifizieren, die sich mit dem Corona-Virus und der Pandemie befassen: die Grundlagenforschung, die Pandemiebekämpfung und die Pandemic-Preparedness, also das „Vorbereitetsein“. Welche dieser „Triebe“ wann wie stark im Fokus steht, unterscheidet sich zum einen von Disziplin zu Disziplin und hängt zum anderen davon ab, welcher Bereich gegenwärtig gefragt ist. Der Bedarf zu Pandemiebeginn? Akute Eindämmung der Krise – als Reaktion auf die ersten Ausbrüche galt es vor allem, den steigenden Infektionszahlen mit effektiven Maßnahmen wie der schnellen Bereitstellung von Corona-Tests zu begegnen. Diese Forschung wird auch mittelfristig weiterbetrieben; die Virologie arbeitet aktuell etwa an einer „Proof of Concept“-Studie, die sich mit der breiten Wirksamkeit des von ihr entwickelten Medikaments beschäftigt. Da aber keine unmittelbaren Eingriffe mehr nötig sind, rückt vermehrt die Vorbereitung auf künftige Pandemien in den Vordergrund. 

Die Grundlagenforschung, die allgemeinen Fragen wie der nach den Entwicklungsstufen von Corona-Viren nachgeht, ist dabei eng mit den weiteren Zweigen vernetzt. „Indem wir dem Virus in Echtzeit bei seiner Evolution zugesehen haben, können wir nun ganz tief in unterschiedliche Verständnisebenen kommen“, so Karch. Einen besonderen Schwerpunkt verfolgt hierbei das NRW-weite Netzwerk „Beyond COVID-19“. Das Ziel: Verstehen, was hinter dem Post/Long-Covid-Syndrom steckt und mit welchen Therapien den Betroffenen geholfen werden kann. „Die große Herausforderung bei der Arbeit mit Long-Covid ist, dass Bedarf und Verfügbarkeit aufeinandertreffen“, hebt Privat-Dozent Dr. Phil-Robin Tepasse hervor, der den Funktionsbereich Klinische Infektiologie in der Medizinischen Klinik B der Uniklinik leitet. „Aktuelle Grundlagenforschung muss notgedrungen schnell mit klinischer Anwendung verknüpft werden. Wir haben hier mit Patienten zu tun, die direkt klinische Hilfe brauchen, während wir zugleich aber noch nicht umfassend über die Basis von Long-Covid Bescheid wissen.“

In vielen Projekten greifen daher verschiedene Forschungsebenen ineinander. So stehen die Inhalte von Grundlagenforschung einerseits für sich, werden andererseits aber auch in Fragen der Pandemievorbereitung einbezogen. Ein Beispiel: „Im Projekt ‚OptimAgent‘ untersuchen wir zusammen mit weiteren Fachdisziplinen unter anderem, wie man anhand von GPS-Handydaten Verhaltensänderungen in Echtzeit weltweit messen kann“, so Karch. „Das ist der grundlegende Teil. In einem weiteren Schritt schauen wir, wie man diese Ergebnisse auch in Bezug auf Pandemien verwenden und zu deren Überwachung beziehungsweise Eindämmung nutzen kann – das fällt dann unter Pandemic-Preparedness“. OptimAgent ist dabei nur eines von mehreren disziplinübergreifenden Modellierungsprojekten, die daran arbeiten, epidemische Entwicklungen in verschiedener Hinsicht abbilden und verfolgen zu können.  

Ein Vorhaben, bei dem die interdisziplinären Knotenpunkte besonders eng zusammenlaufen, ist das Netzwerk Universitätsmedizin (NUM). Im April 2020 durch das Bundesforschungsministerium initiiert und seitdem durch dieses finanziell gefördert, hat es das Ziel, die Corona-Forschung in Deutschland besser zu koordinieren. „Von Anfang an war klar, dass die Bewältigung der Pandemie größtmögliche Zusammenarbeit benötigt“, sagt Dr. Jana Zimmermann, die die lokale Stabsstelle in Münster administrativ betreut. „Die Problemlage lässt sich nicht aus einer Disziplin allein erschließen, weswegen bei NUM unterschiedliche Fachbereiche zusammenarbeiten.“ Das Projekt befindet sich mittlerweile in der zweiten Förderperiode, die Universität Münster ist an zehn Projekten beteiligt, für die bis 2025 insgesamt 4,5 Mio. Euro an die Medizinische Fakultät fließen.

Zu diesen zählt auch „CollPan“, das im September startet. Angeleitet von Prof. Alexander Mellmann vom Institut für Hygiene untersuchen die Projektpartner, ob sich die Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung negativ auf andere Lebensbereiche ausgewirkt haben: „Um in Zukunft die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen, reflektieren wir, inwiefern es zu Kollateralschäden gekommen ist“, erläutert Mellmann. „Zum Beispiel werten wir aus, ob die Entscheidung, an der Uniklinik Corona-Patienten gegenüber weiteren Patienten bevorzugt aufzunehmen, unter dem Strich nicht mehr Leid verursacht als verhindert hat.“

Außerdem nimmt das Institut für Hygiene auch das eigene Krankenhauspersonal in den Blick. Durch den Vergleich von Daten vor und nach dem Pandemiebeginn wird ermittelt, ob die emotionale Belastung das Verhalten am Arbeitsplatz beeinflusst hat. Wurden die Hygienemaßnahmen reibungslos umgesetzt, stand aus lauter Verunsicherung der Selbstschutz oder die Sicherheit der Patienten im Vordergrund? „Um zu entscheiden, wie man sich bei unerwarteten Ausbrüchen oder gar neuen Pandemien verhält, sind diese Fragen enorm wichtig“, so Mellmann. Wann es denn wieder so weit sein könnte? „Das ist wie bei der Feuerwehr: Man kann nie sicher sagen, ob es morgen brennt, in zehn Jahren oder nie wieder. Entscheidend ist, dass man auf alle Fälle vorbereitet ist“, sagt der Mediziner.

Im Blick auf potenzielle Pandemien oder unerwartete Ausbrüche ist es folglich der Anspruch, Strategiekonzepte zu entwickeln, die unmittelbar greifen – ein Vorhaben, dem sich besonders das NUM-Projekt „Prepared“ widmet. „Wir wollen hier die Pandemievorbereitung auf möglichst breite Beine stellen“, erklärt Karch. „Dazu zählt nicht nur, dass wir die Infrastrukturen für eine bestmögliche medizinische Versorgung in diesen Fällen schaffen, sondern auch die Kommunikationswege in die Politik möglichst effektiv gestalten.“

Die größte Gefahr für eine weitere Pandemie geht dabei von Erkrankungen aus, die vom Tier auf den Menschen übergehen. „Alle Pandemien, ob Pest, Influenza oder Covid, sind durch zoonotische Erreger entstanden“, betont Prof. Stephan Ludwig, Leiter des Instituts für Virologie. Seit 2009 ist in Münster die Koordinationsstelle der Nationalen Forschungsplattform für Zoonoseforschung beheimatet – noch: „Die Corona-Pandemie hat erneut bewiesen, wie eng die Gesundheit des Menschen mit der Umwelt insgesamt verbunden ist. Deswegen planen wir aktuell, die Plattform für Zoonoseforschung zu einer One-Health-Plattform auszweiten, um beispielsweise auch Faktoren der Ökologie oder Biodiversität zu beachten.“

Die Lehre der Pandemie und zugleich die Richtung für die Zukunft lautet daher: Wenn alles zusammenhängt, muss auch alles zusammenarbeiten. „In Sachen interdisziplinärer Zusammenarbeit hat Corona einen großen Sprung nach vorn bewirkt. Noch nie hat sich die Forschung so schnell gemeinsam für ein gemeinsames Ziel eingesetzt. Auch die Translation zwischen Forschung und Klinik hat selten so direkt stattgefunden“, betont Ludwig. Demgemäß ist der Virologe seit Juni 2020 Mitglied der Kommission für Pandemieforschung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die auch gegenwärtig noch regelmäßig tagt; neben medizinischen Fachbereichen sind unter anderem die Wirtschaftswissenschaften, Jura oder die Soziologie vertreten.  

Auf unterschiedlichen, sich ergänzenden Ebenen ist die Corona-Forschung der Universitätsmedizin in vollem Gange – und wird so schnell auch nicht an Fahrt verlieren: „Schätzungsweise werden wir mindestens noch die nächsten fünf bis zehn Jahre damit zu tun haben, die verschiedenen Bereiche zu vertiefen. Erst dann vermögen wir den Entscheidern so viel Wissen an die Hand zu geben, dass diese fundiert agieren können“, schaut Mellmann nach vorn.

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