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„Nun sollten klinische Studien folgen“: WWU-Forscher entwickeln stammzellbasierte Methoden, um jungen Krebspatienten spätere Vaterschaft zu ermöglichen
Autoren verweisen auf große Fortschritte der Forschung – und monieren Hemmnisse in Deutschland
Münster (mfm/sw) – Spermatogoniale Stammzellen: so sperrig der Begriff, so groß die Hoffnungen. So groß, dass selbst das „Wall Street Journal“ in Münster um ein Interview bat. Jüngste Forschungsergebnisse könnten jungen Krebspatienten die Möglichkeit eröffnen, trotz aggressiver Chemotherapie im Erwachsenenalter Eltern zu werden. Wie das funktionieren kann, untersucht die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Stefan Schlatt und seiner Kollegin PD Dr. Nina Neuhaus am Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie (CeRA) der Universität Münster. Der Stellenwert des münsterschen Ansatzes ist hoch: Prof. Schlatt und weitere Teamkollegen konnten jetzt in der Fachzeitschrift „Human Reproduction Update“ ein „Grand Theme Review“ – einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand – veröffentlichen. Die renommierte „Science“ zog mit einem Kommentar nach.
Stammzellen – sie bilden die sensible Grundlage der männlichen Fertilität. Vor allem Krebspatienten leiden nach einer Chemotherapie unter einem manchmal vollständigen Verlust an testikulären Stammzellen, was zu lebenslanger Unfruchtbarkeit (Infertilität) führen kann. Für Erwachsene ist dies weniger problematisch, sie können Spermien vor einer die Hoden schädigenden Behandlung einfrieren. Jungen, bei denen der Krebs schon im Kindesalter ausbricht, haben diese Option aber nicht, denn Spermienbildung beginnt erst in der Pubertät. Um der Infertilität nach einer erfolgreichen Tumortherapie zu entgehen, hat man angefangen, immatures Hodengewebe, das spermatogoniale Stammzellen enthält, zu entnehmen und zu kyrokonservieren – also einzufrieren. Das Problem: Es gibt noch keine verlässlichen Methoden, um aus dem entnommenen Gewebe Spermien zu gewinnen.
Die Lösung rückt näher: Die Arbeitsgruppe von Prof. Schlatt sowie weitere europäische Zentren in der Reproduktionsmedizin arbeiten an drei Methoden, um Spermien aus den testikulären Stammzellen zu erhalten: der In-vitro-Spermatogenese, der testikulären Gewebetransplantation (Grafting) und der Keimzelltransplantation. Nina Neuhaus erläutert: „Für die Isolierung, Charakterisierung und Vermehrung der Stammzellen aus Hodengeweben testen wir unterschiedliche Ansätze. Wichtig ist es, genetische und epigenetische Veränderungen auszuschließen, da dies zu Erkrankungen der mit den Spermien erzeugten Nachkommen führen könnte. Unser Ziel ist es, sichere, effiziente und individualisierte Ansätze zur Gewinnung von Spermien aus Stammzellen zu entwickeln“.
Nachdem diese Methoden erfolgreich an Affen getestet wurden, soll die Behandlung in Zukunft auch am Menschen angewendet werden. Mittels Grafting konnte ein gesundes Makakenaffen-Baby auf die Welt gebracht werden. Hat man erst einmal Spermien gewonnen, ist die Befruchtung mit den modernen Methoden der Reproduktionsmedizin sehr oft erfolgreich. In einer Studie an der Universität Pittsburgh wurde jetzt gezeigt, dass sich unter Einsatz von im Hodentransplantat gebildeten Spermien und Anwendung der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) ein gesundes Affenbaby erzeugen ließ
„Diese Studien fanden an dem Institut statt, dass ich vor zehn Jahren bei meiner Rückkehr an die Universität Münster verlassen habe. Es ist großartig, dass meine Kollegen dort konsequent weiter geforscht haben und diesen Durchbruch erzielt haben. Zugleich ist es sehr schade, dass wir diese Studien, obwohl die Bedingungen am Standort herausragend sind, aufgrund des strengen Tierschutzes nicht selbst durchführen konnten“, so Schlatt. Er ergänzt: „Es ist schon bedenklich, dass wieder einmal, wie so häufig in Reproduktionsmedizin und -biologie, Methoden im Ausland ohne deutsche Beteiligung entwickelt werden, deren Ergebnisse dann in unseren Kliniken Anwendung finden. Ich hoffe, dass wir nun, trotz eines forschungsbehindernden Embryonenschutzgesetzes, zumindest bei der klinischen Erprobung an vorderster Front forschen dürfen.“ Das CeRA bietet bereits seit Jahren das „Androprotekt“-Programm an, um durch Vernetzung vieler Kliniken in Deutschland die Kryokonservierung von Hodengewebe zentral und nach höchsten Standards durchzuführen.
Prof. Schlatt und PD Neuhaus sind sich sicher, dass die neuen Forschungserkenntnisse einen Meilenstein bedeuten: „Wir versuchen, auch jungen Krebspatienten eine Chance zu geben, später Kinder zu zeugen“. In einem Kommentar, den jetzt die „Science“ veröffentlichte, bekräftigen beide den hohen klinischen Stellenwert der Forschungen und betonen, dass nun klinische Tests an menschlichen Geweben durchgeführt werden sollten, damit die Methode in Zukunft ein fester Bestandteil einer Therapie für Infertilität werden kann.