News
KI mit Nutzen statt Chat(GPT)-Gedöns: Vor 50 Jahren erhielt die Uni Münster eine Medizinische Informatik
Münster (mfm/sw) – Beim Trendthema Digitalisierung in der Medizin ist Deutschland ganz vorn dabei – jedenfalls dann, wenn man die Tabelle auf den Kopf stellt. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2018 landete die Bundesrepublik auf dem vorletzten Platz. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung reagierte mit einem bis dato beispiellosen Förderprogramm: der Medizininformatik-Initiative. Dadurch sollen insbesondere die Forschungsinstitute der Medizinischen Fakultäten eine moderne Infrastruktur für Datenaustausch und -analyse aufbauen – so auch das Institut für Medizinische Informatik (IMI) der Universität Münster, das hierdurch besonders gefördert wird. Seit 1973 arbeiten in der Einrichtung Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Wegen, um mittels Daten und Algorithmen die medizinische Forschung und Versorgung zu verbessern – in diesem Jahr feiert das Institut somit sein 50-jähriges Bestehen mit einem Symposium im Schloss. Der kommissarische Institutsleiter Prof. Julian Varghese blickt aus diesem Anlass zurück, nach vorn – und auf das, was heute angesagt ist.
Was als ein Institut mit dem ursprünglichen Namen IMIB (Institut für Medizinische Informatik und Biomathematik) begann, das seinen provisorischen Sitz im legendären Hotel Schnellmann hatte (Ecke Ring/Hüfferstraße), ist heute auf dem Albert-Schweitzer-Campus angesiedelt und im Gebäude der medizinischen Uni-Bibliothek zuhause. Das Team arbeitet interdisziplinär an der Schnittstelle von Medizin, Informatik und Bioinformatik. Trotz des immensen Ausbaus: Wichtige Weichen wurden schon vor 50 Jahren von Prof. Friedrich Wingert – damals der jüngste Lehrstuhlinhaber Deutschlands und Gründer des Instituts – gestellt, betont Julian Varghese: „In meiner Vorlesung erwähne ich Prof. Wingert und seine Arbeiten zur SNOMED-Terminologie immer noch.“ Dabei handelt es sich um eine systematisierte Nomenklatur in der Medizin, die weiterhin international angewandt wird – und heute über 800.000 Einträge umfasst.
Durch die Arbeiten des ehemaligen Institutsleiters, Prof. Martin Dugas, beschäftigte sich das Institut fortan mit modernen Informationssystemen in der Medizin: Das mobile Dokumentationssystem MoPAT ersetzt in zahlreichen Kliniken der Uniklinik Münster die papierbasierte Patientendokumentation; es wurden mehrere bundesweite und internationale Register implementiert, wie das Register für Primäre Ciliäre Dyskinesie von Prof. Heymut Omran oder das sogenannte SOLKID-Register für Lebendnieren-Spender von Prof. Barbara Suwelack. Für mehrere Forschungsgruppen der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist das IMI mittlerweile ein zentraler Partner für bioinformatische Analysen geworden, um molekularen Ursachen von verschiedenen Erkrankungen auf den Grund zu gehen.
Ein neuer Forschungsschwerpunkt des IMI ist die Implementierung von Maschinellen Lernverfahren und Künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin. Besonders nützlich erweist sich die KI bei der Diagnose und Entdeckung von Krankheitsbildern – sogar solchen, „von denen wir vorher gar nicht wussten, dass es sie gibt“, so Varghese. Eine herausragende Stärke des Instituts ist ein zertifiziertes Qualitätsmanagement-System für Medizinprodukte: „Wir können als einziges Institut an der Universität Münster nicht nur KI-Systeme erforschen, sondern auch die Software als Medizinprodukt entwickeln und später am Patienten anwenden – das ist ein echtes Alleinstellungsmerkmal“, erklärt der Mediziner und Informatiker.
In sogenannten Use-Cases, also echten Anwendungsfällen, kommt die entwickelte KI zum Patienten: Zusammen mit der Augenuniklinik in Münster und Prof. Nicole Eter wird das IMI das „EyeMatics“-Konsortium im nächsten Jahr koordinieren. Der Inhalt des Projektes, an dem vier Universitätsklinika und zwei Regionalkrankenhäuser beteiligt sind: Bei Erkrankungen, die zur Erblindung führen, schneiden Therapien in der Praxis oft schlechter ab als erhofft. Warum das so ist, soll die KI durch eine neue, kombinierte Analyse von Schichtaufnahmen der Netzhaut und den Krankenhausroutinedaten herausfinden. Ziel ist ein standortübergreifendes klinisches „Dashboard“ – eine Art digitales Armaturenbrett - auf das zurückgegriffen werden kann, um Risikofaktoren „nachzuschlagen“ und die Therapie individuell anzupassen. Im besten Fall lässt sich auf diese Weise die Sehschärfe des Patienten verbessern.
Mittlerweile ist KI auch im Alltag angekommen – so das prominente Beispiel ChatGPT: „Solche KI-Anwendungen kommen aus der Gruppe der sogenannten Large Language Models und werden die Art, wie wir in Zukunft Texte schreiben und bewerten, bedeutend verändern. Allerdings sollten diese aufgrund der noch fehlenden medizinischen Genauigkeit, regulatorischen Zulassung und gravierender Datenschutzaspekte nicht ohne Weiteres für die klinische Anwendung am Patienten genutzt werden. Hierfür wären qualitätsgesicherte Daten zum Training und Testen und klinische Studien notwendig“, so Varghese. Gemeinsam mit seinem Kollegen Julio Chapiro von der Yale Medical School berichtet er in einem kürzlich erschienenen Expertenpapier über Chancen und Risiken von ChatGPT in der Medizin.
Besonders stolz ist der junge Professor, der parallel zu seinem Studium der Humanmedizin ein Informatik-Studium absolvierte, auf die Lehrveranstaltung zur KI, die in Münster seit dem Wintersemester 2021/22 fester Bestandteil des regulären Stundenplans im 9. Semester des Medizinstudiums ist – eine bundesweite Premiere. Und nicht nur das: „Laut Evaluation der Veranstaltung ist diese bei den Studierenden gut angekommen“, freut sich Varghese, „Auch, wenn unser Fach - noch - nicht mit praxisnahen Fächern wie der Notfallmedizin mithalten kann: Immer mehr Medizinstudierende interessieren sich für Künstliche Intelligenz und Patienten-Apps im klinischen Kontext“. Der Professor legt viel Wert auf die interdisziplinäre Kooperation innerhalb der Universität und sitzt im Vorstand des European Research Center of Information Systems, einem internationalen Netzwerk der Wirtschaftsinformatik der Uni Münster. Hierdurch bietet das IMI auch interdisziplinäre Bachelor- und Masterarbeiten im informatischen Umfeld an.
Neben solchen inhaltlichen Gründen gibt es noch eine weitere Erklärung, warum sich Nachwuchskräfte beim IMI bewerben, dessen ist sich Julian Varghese sicher: „Es gibt mehrere Institute für Medizinische Informatik in Deutschland, aber wir haben über unsere interessanten Forschungsschwerpunkte hinaus etwas, was sonst keiner hat: die Schönheit der Stadt Münster“, schmunzelt der Institutsleiter.