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Neue Studie auf Basis der Daten von 570.000 Patienten zeigt: Marcumar ist eventuell besser als sein Ruf

Prof. Holger Reinecke, Direktor der Klinik für Kardiologie I am UKM und Forschungsgruppenleiter der Universität Münster (Foto: UKM/M. Heine)

Münster (ukm/aw) - Der Gerinnungshemmer Marcumar ist vielen ein Begriff. Doch der Blutverdünner wurde in der Behandlung inzwischen meist von moderneren nicht-oralen Antikoagulantien (NOAK) verdrängt. Umso überraschender ist das Ergebnis einer großangelegten Real-World-Studie, die die Patientendatensätze von 570.000 Versicherten der BARMER-Krankenkasse ausgewertet hat: Herz-Kreislauf-Erkrankte, die wegen eines Schlaganfall- oder Thromboembolie-Risikos auf eine vorbeugende Blutverdünnung angewiesen sind, haben geringere Komplikationsraten mit dem Vitamin-K-Antagonisten (VKA) Phenprocoumon. Der im Gerinnungshemmer Marcumar enthaltende Wirkstoff ist laut einer Studie der Forschungsgruppe um Prof. Holger Reinecke von der Universität Münster mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit verbunden als NOAK.

Das Team unter Leitung von Reinecke hat in Zusammenarbeit mit dem BARMER-Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg) die Patientendatensätze der Krankenkasse aus zehn Jahren retrospektiv ausgewertet. Das Ergebnis könnte zu einer Kehrtwende bei der Verordnung von Blutverdünnern in Deutschland führen. „Seit ihrer Markteinführung vor rund zwölf Jahren haben sich die in den modernen NOAK enthaltenen Wirkstoffe am Markt gegenüber den Vitamin-K-Antagonisten der ersten Stunde durchgesetzt. Vereinfacht gesagt hat unsere Langzeitstudie nun herausgefunden, dass der Vitamin-K-Antagonist Phenprocoumon in Marcumar den NOAK in seiner Wirkung insbesondere mit Blick auf ein besseres Überleben überlegen sein könnte“, so Reinecke, der die Klinik für Kardiologie I am Universitätsklinikum Münster leitet.

Das in den 1980er Jahren im Markt eingeführte Marcumar sei mit einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit der Betroffenen assoziiert als die moderneren NOAK, führt der Mediziner weiter aus. „Für Niedergelassene und Betroffene ist das eine Nachricht, die nicht ignoriert werden sollte, zumal es weitere Studien aus dem In- und Ausland gibt, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen.“ Reinecke räumt aber auch ein, dass es zur Absicherung der These noch randomisierte prospektive Studien mit einer breit aufgestellten Altersgruppe geben müsse, die die Wirksamkeit und das Überleben von Phenprocoumon im Vergleich zu den jeweils einzelnen Wirkstoffen der neueren NOAK eins zu eins untersuchen.

Der Vorteil einer groß angelegten Real-World-Studie liegt darin, dass sie die medizinischen Ergebnisse von hunderttausenden Betroffenen analysiert und sich nicht auf eine begrenzte, meist jüngere und recht gesunde Probandengruppe bezieht, wie es bei Zulassungsstudien häufig der Fall ist. In der von Reinecke untersuchten Gruppe ist das gesamte Spektrum von atientinnen und Patienten aus Deutschland vertreten, die bei neu diagnostiziertem thromboembolischem Risiko durch Schlaganfall, Thrombose oder Lungenembolie zuvor noch nie auf Blutverdünnung angewiesen waren. Hingegen wurden die NOAK dagegen bei ihrer Zulassung Anfang der 2010er Jahre ausschließlich an jungen und gesunden Patientinnen und Patienten getestet. Hierin könnte die Erklärung dafür liegen, warum für ein langfristiges Überleben bei den in der aktuellen Studie untersuchten, meist älteren und erheblich kränkeren Patienten, eventuell Marcumar die bessere Wahl wäre.

In der ärztlichen Verordnungspraxis besteht der große Vorteil der NOAK gegenüber dem kontrollintensiven Marcumar vor allem in der einfachen Anwendung durch die Patientinnen und Patienten. Die Gabe von NOAK erfordert weniger ärztliche Überwachung als die von Phenprocoumon, bei der engmaschig - am besten wöchentlich - die Blutgerinnung im Labor erhoben werden muss. Der Grund: Für den Laien schwer einzuschätzende Einflussfaktoren, wie der Konsum von viel Vitamin K beispielsweise durch grünes Gemüse, könnten unter Marcumar-Einnahme die Blutgerinnung gefährlich beeinflussen.

Teure NOAK-Wirkstoffe führen zu hohen Kostensteigerungen

Über den fehlenden Therapievorteil hinaus macht Reinecke noch ein weiteres Argument geltend: Im Jahr 2022 machten die Verordnungen von NOAK 99 Prozent des Gesamtumsatzes aller Antikoagulantien aus. Der Anteil bei den Verordnungen von Blutverdünnern wächst stetig; der Marktanteil des Wirkstoffs Phenprocoumon ist dagegen deutlich zurückgegangen. „Wir wollen den Betroffenen keine Sorgen bereiten, denn NOAK sind natürlich auch wirksam, wenn wir auch eine tendenziell bessere Überlebensdauer für Marcumar ermitteln konnten. Definitiv muss man aber die Frage nach dem therapeutischen Zusatznutzen dieser enorm teuren Medikamente stellen“, so Reinecke.

Die Zunahme bei den Verordnungen der verhältnismäßig teuren NOAK hat zu einer hohen Kostensteigerung bei den Arzneimittelausgaben der Kostenträger geführt. So belegten 2022 allein die beiden NOAK-Wirkstoffe Apixaban und Rivaroxaban die Plätze 2 und 3 der Liste der Medikamente, für die die höchsten Ausgaben getätigt wurden - in der Summe bedeutete das Ausgaben von über zwei Milliarden Euro. Damit zählen diese Präparate eindeutig zu den größten „Kostentreibern“. „Marcumar kostet dagegen pro Tablette nicht einmal dreißig Cent“, gibt Reinecke zu bedenken. Bei der Verordnungspraxis sollte deswegen nach Meinung der Studienautoren noch einmal überdacht werden, welches Präparat zum Einsatz kommt.

PubMed-Link zu Studie

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