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"Good Vibrations" im Holzhaus am Rand des Campus: Joachim Groß erforscht die Kommunikation im Gehirn
Münster (upm) - Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Blockhütte im Wald: das am Malmedyweg, zwischen Universitätsklinikum und den Sportplätzen an der Sentruper Höhe, gelegene und leicht zurückspringende Gebäude. Dunkle Holzvertäfelungen schmücken die Fassade des Instituts für Biomagnetismus und Biosignalanalyse. Es gehört zum Bereich der Translationalen kognitiven Neurowissenschaften der WWU Münster, deren Experten sich mit der Untersuchung der Hirnaktivität im gesunden und erkrankten Gehirn beschäftigen.
Seit 2017 leitet Prof. Dr. Joachim Groß das Institut. Nach fast zwölf Jahren in Glasgow am Centre for Cognitive Neuroimaging zog es ihn nach Münster. Wetterprognosen, ob es in der schottischen Hafenstadt öfter regnet als im Münsterland, kann er zwar nicht machen. Aber er versucht vorherzusagen, was im menschlichen Gehirn passiert. Vor allem die rhythmischen Schwingungen der Hirnaktivität und welche Funktionen sie haben, möchte er verstehen. Das ist auch der Grund, warum sich die besondere Bauweise des Instituts von anderen Gebäuden unterscheidet. „Um Gehirnrhythmen zu messen, müssen wir sämtliche Störfaktoren wie etwa Schall und Magnetfelder fernhalten. Holz ist dafür ein geeigneter Baustoff“, erklärt Joachim Groß.
Mit besonderer Faszination spricht er über den Magnetenzephalograph, kurz MEG, das Herzstück des Instituts. Mit seinen 275 Sensoren und 1.000 Messpunkten pro Sekunde an jedem Sensor messen die Wissenschaftler zeitlich hoch aufgelöst Hirnaktivitäten. Joachim Groß ist die Begeisterung für seinen Forschungsgegenstand anzuhören, wenn er von Frequenzen, Rhythmen und Schwingungen spricht. Diese rhythmischen Muster nennt man auch Oszillationen. „Dass es diese Rhythmen gibt, ist schon seit über 100 Jahren bekannt. Was sie aber genau machen, ist unklar. Es gibt Hinweise, dass sie eine Rolle bei der Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Hirnarealen spielen und dass sie den Zustand des Gehirns widerspiegeln, beispielsweise ob jemand krank oder gesund ist“, erklärt der Hirnforscher.
Dabei kommunizieren schätzungsweise 100 Milliarden Nervenzellen – die Neuronen – über 100 Billionen Synapsen miteinander. An diesen Verbindungsstellen läuft die Informationsübertragung zwischen Nervenzellen ab. Es entsteht ein gewaltiges Netzwerk, in dem Informationen erzeugt, verarbeitet und ausgetauscht werden. Bei bestimmten Krankheitsbildern wie Parkinson, Sprachstörungen, Epilepsie, Depressionen oder Schizophrenie ist diese Informationsübertragung aus der Balance geraten.
Dass Joachim Groß untersucht, welche Rolle diese Schwingungen bei der Kommunikation im Gehirn spielen, ist nicht verwunderlich. „Ich wollte bereits als Kind verstehen, wie die Welt funktioniert. Dazu habe ich Dinge auseinandergebaut und wieder zusammengesetzt. In mir steckte schon sehr früh ein Tüftler und Forscher “, sagt Joachim Groß.
Das Verlangen, fundamentale Prinzipien der Welt zu finden, hat Joachim Groß zunächst zum Physikstudium in Hannover geführt. Denn viele Fragen können mit grundlegenden Gesetzmäßigkeiten beantwortet werden. Für seine Diplomarbeit arbeitete er mit Verfahren der Kernspintomographie und erhielt erstmals Einblicke in medizinische Fragestellungen. Während seiner Doktoranden- und PostDoc-Zeit vertiefte er seine Expertise im Bereich der Hirnstrommessungen und stellte fest: Diese Messungen, wie das MEG, basieren auf fundamentalen physikalischen Gesetzen. „Aber das Gehirn zu verstehen, ist sehr viel komplizierter – klare Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien sind schwer zu entdecken. Das hat mich Demut gelehrt, denn mein Forschungsobjekt ist eines der komplexesten Systeme, das es im Universum gibt“, betont der 54-Jährige.
Nach der Physik und der Medizin brachten ihn seine Forschungen zur Psychologie. An der University of Glasgow erhielt er eine Professur für systemische Neurowissenschaften und leitete eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Funktionalität von Hirnschwingungen mit Hilfe von Bildgebungsverfahren und computergestützten Methoden beschäftigte. Vor allem die Arbeit in einem internationalen Team war für ihn eine besondere Zeit – eine Verbindung nach Glasgow besteht nach wie vor über eine Gastprofessur, die allerdings Ende des Jahres ausläuft.
Joachim Groß ist sich bewusst, dass er für seine Grundlagenforschung und Ziele viel Ausdauer benötigt. Zu komplex sei der Gegenstand, zu viele Fragen seien noch unbeantwortet. Daher war es im Jahr 2001 ein ganz besonderer Moment in seiner wissenschaftlichen Laufbahn, als es ihm mit seinem Team gelungen ist, die Kommunikation zwischen den verschiedenen Gehirnarealen sichtbar zu machen. „Nach monatelangen Versuchen hatte es endlich geklappt. Wir saßen vor dem Bildschirm, schauten uns die Ergebnisse an und konnten es kaum glauben. Inzwischen wird unsere Methode weltweit angewandt“, freut sich Joachim Groß rückblickend.
Doch damit nicht genug: „Aus jeder Antwort ergeben sich zehn neue Fragen“, sagt der gebürtige Schaumburger. Sein größtes wissenschaftliches Ziel sei es, eine Kategorisierung der Hirnrhythmen und deren Funktionen und Aufgaben zu entwickeln. „Ich möchte, in Zusammenarbeit mit meinen medizinischen Kollegen, zukünftig Biomarker entwickeln, um Vorhersagen über Krankheitsbilder und Therapieerfolge zu treffen. Damit könnten Behandlungspläne für bestimmte neurologische und psychiatrische Erkrankungen passgenau und individuell erstellt werden“, betont Joachim Groß ausblickend. „Wenn wir wissen, dass beispielsweise bei Depressionen bestimmte Rhythmen verändert sind, könnten wir versuchen, diese mit Neurostimulation wieder zu normalisieren und den Betroffenen helfen“.
Diese Erkrankungen zu verstehen und sie zu therapieren, braucht Kooperationen zwischen verschiedenen Fachdisziplinen. Neurologie, Biologie, Psychologie, Physik, Mathematik und Psychiatrie – das interdisziplinäre Netzwerk von Joachim Groß ist weitverzweigt. „Es gibt noch so viele offene Fragen, die nur fachübergreifend zu beantworten sind. Das betrifft beispielsweise den Zusammenhang zwischen Körper und Gehirn, die Rolle von Hormonen und Genen, den Einfluss von persönlichen Lebensstilen und Erfahrungen in der Kindheit und Jugend“, zählt er auf.
Wer sich so intensiv mit der Gehirnforschung beschäftigt, muss auch darauf achten, dass sein eigenes Gehirn eine Auszeit erhält. Passenderweise befindet sich unmittelbar neben dem Institut eine Grünanlage, die zum Verweilen und Energieaufladen einlädt – eben doch fast wie im Wald.
Kathrin Kottke (Quelle: wissen|leben, Nr. 7/2021)