Von ärztlicher Kunst zum künstlerischen Arzt: Winfried Totzek sitzt zwischen allen (seinen) Stühlen
Münster (mfm/sw) – Von der „Dummen Ziege“ über „Angies Traum“ bis hin zu Sitzmöbel-Klassikern wie der „Fleeze“: Winfried Totzeks Fantasie kennt keine Grenzen. Ein Mann, mehrere Talente, viele Kunstwerke und wohl genauso viele Hürden, die er überwinden musste: Der 79-Jährige ist Orthopäde, Psychotherapeut, Erfinder und Künstler. In seinem Haus in der Peripherie Warendorfs lässt nichts auf einen „typischen“ Mediziner schließen – statt auf einen solchen trifft man bei Winfried Totzek auf ein einzigartiges - und vor allem eigensinniges - Multitalent. Die großzügigen Räume sind ein kleines Museum: Auf Regalen, auf dem Flügel, in der Küche, neben dem Sofa reiht sich Werk an Werk – Besucher bekommen buchstäblich im Vorübergehen einen ersten Eindruck einer ungewöhnlichen Persönlichkeit.
Nach Studienabschluss und Promotion 1971 an der Medizinischen Fakultät der Universität Münster widmete sich der gebürtige Kamener dem, was er für wichtig hielt - der Betrachtung des Menschen als Ganzem in seiner ärztlichen Kunst. „Damals haben Mediziner vorrangig den Körper betrachtet und außer Acht gelassen, dass der Patient eben auch Mensch ist“, so Totzek. „Mich haben die Randgebiete der ärztlichen Kunst interessiert, denn die standen für das, was ich werden wollte: ärztlicher Künstler, nicht Mediziner.“
Seit 1994 ist das Ausnahmetalent nicht nur Orthopäde, sondern auch Psychotherapeut. Steine hätten ihm vor allem diejenigen in den Weg gelegt, die die Psychotherapie eigentlich fördern wollten, sagt Totzek, und meint die Berufskollegen bei der Ärztekammer. In jahrelangen Prozessen erkämpfte er sich die doppelte Zulassung – als erster niedergelassener Orthopäde bundesweit. Der strengen Klinikhierarchie konnte der junge Totzek wenig abgewinnen – und eine dortige Karriere sich noch viel weniger vorstellen. Stattdessen schlug er einen Weg als niedergelassener Arzt ein – „in der Hoffnung auf Freiheit“: Der Grenzgänger und Polarisierer ließ sich in Warendorf mit eigener Praxis nieder, anfangs als reiner Orthopäde.
Nach wenigen Sätzen wird dem Gesprächspartner klar, dass man es bei Winfried Totzek mit keinem normalen „Knochenbrecher“ zu tun hat, der nur mit dem Strom schwimmt. So schließt man schnell Bekanntschaft mit einem schwarzen Schaf - einer seiner Skulpturen. Diese sieht nicht nur so aus wie sie heißt, sondern zeigt auch passende Charakterzüge: „Wenn ich zu dem Schaf sage ‚Totzek ist der berühmteste Orthopäde der Welt‘, dann nickt es. Aber wenn ich mich dann umdrehe, schüttelt es den Kopf“, so das selbst ernannte schwarze Schaf zu seinem Ebenbild. Bereits in der Kindheit habe sich der Künstler gegen Normen gesträubt. Die Schule sah er nicht als Ort zum Lernen, sondern zum Witze machen. So verwundert es nicht, dass im Abschlusszeugnis eher mäßige Noten standen – „was meinen späteren Beruf keineswegs beeinträchtigt hat“, frotzelt Totzek in Richtung des heutigen Systems. Ein gutes Abitur allein sei kein Präjudiz für einen guten Arzt. Doch auch – oder gerade – Querdenker können im späteren Berufsleben glänzen: Im Medizinstudium war der Künstler stets mit viel Einsatz, Eifer und Wissensdurst dabei und schrieb in allen Examina nur noch Einsen.
Jedes seiner Werke versieht Totzek mit Tiefsinn – der sich auf den ersten Blick oft noch nicht sofort erschließt. Auch deshalb setzt der Warendorfer auf eine Kunst, „die man bitte anfassen soll“. Nur so ließen sich haptische Eindrücke der Materialien erspüren, die er nutze - vor allem Mooreiche, Stahl und Stein. Besucher seiner Ausstellungen sollen Erfahrungen mit Kunst ohne Grenzen machen – das meint: mit allen Sinnen. Viele seiner Objekte kann und soll man auch bewegen und so alle Facetten entdecken. Totzek sieht sich selbst nicht nur als bildenden Künstler, sondern auch als Erfinder: Nicht zuletzt hat sein Orthopäden-Dasein ihn dazu inspiriert, seine Kenntnisse über die menschliche Anatomie, Physiologie und Ergonomie in die Tat umzusetzen – das Design von Sitzmöbeln ist seither eine seiner Lieblingsbeschäftigungen.
Seine Sitzmöbel laden tatsächlich zum Hinsetzen ein – und was zunächst unbequem wirkt, wie das kühle Material, ist bei genauerem Hinsehen - oder eben Ausprobieren - überraschend komfortabel. Pionier und Wegbereiter für weitere Sitzmöbel war die „Fleeze“: Das nach dem münsterländischen Verb „fläzen“ (für eine nachlässige, halbsitzende, halb liegende Position) benannte Möbelstück - das weder Sofa noch Sessel ist, sondern eine neues Sitzmöbel“genre“ begründete - gilt heute als Klassiker. Auf der letzten Kölner Möbelmesse stieß das Kultobjekt auf internationale Resonanz; Ergebnis war ein Vertrag mit einem Schweizer Hersteller.
Winfried Totzek provoziert mit Humor, treibt es gerne bis zur Grenze - und auch darüber hinaus. Doch egal, wie provokant seine Werke auch sind, eines ist für ihn immer das Wichtigste: Humor und nie ein erhobener Zeigefinger. Den Anspruch an sich selbst, mit einem Lächeln alle Dinge heranzugehen, hat er bis heute beibehalten. Anderen etwas Gutes zu tun ist eine seiner Leitlinien – weshalb er zum Beispiel die „Fleeze“ zu einem Preis vertrieb, den sich auch Durchschnittsverdiener leisten können. Bei Führungen durch seine Kunst-Welt setzt er auf Interaktion, erwartet von den Besuchern Initiative und Dialog.
Münster ist für den bildenden Künstler eine willkommene Abwechslung zum Alltag – zwar hat er sich in der Provinz niedergelassen, zu einem Ausflug in die rund 25 Kilometer entfernte westfälische Metropole sagt er jedoch nicht Nein. Grund dafür sind neben alten Freunden und Bekanntschaften auch die Kunstausstellungen dort, die er gern besucht.
Der 79-Jährige sieht sich als „kindlicher und leidenschaftlicher Fragesteller“, wobei manche Fragen „auch Leiden schaffen“ könnten. Die künstlerische Freiheit ermöglicht ihm das, was ihm als Orthopäde oft verwehrt war, nämlich Dinge zu hinterfragen, über die „man“ sonst besser schweigt. Die Grenze zieht er da, wo sonst Gefühle anderer verletzt würden. Als Wegbereiter und „Pfadfinder“ hat Totzek jahrzehntelang Menschen zusammengebracht, sich für oder gegen etwas engagiert, anderen Wege aufgezeigt. Nun, so meint er, sei es an der Zeit, das anderen zu überlassen und sich selbst auf die Fleeze zu fläzen. Wobei die aber noch Nachfolger bekommen soll: „Sitzmöbel möchte ich weiterhin entwerfen und selbst herstellen“, verweigert sich Totzek einem Ruhe- oder gar Stillstand.
(Mit diesem Bericht setzt der Alumni-Verein „MedAlum“ der Medizinischen Fakultät Münster seine Porträt-Reihe "Köpfe der Fakultät" fort. Mehr zu dem Verein erfahren Sie hier.)