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Medizin am Ende des Lebens: Studierende trainieren Gespräche mit unheilbar Kranken

Feedback-Runde nach der Trainingssituation im Studienhospital: Prof. Dirk Domagk (links), seine Studenten und die Schauspieler besprechen den Fall einer Koma-Patientin (Foto: hms)

Münster (mfm/hms) – Einem Patienten sagen zu müssen, dass er unheilbar krank ist – es gibt wohl kaum eine schwerere Aufgabe für Ärzte. Und diese lässt sich vorher nicht „trainieren“. Oder doch? Die Universität Münster schult ihre Medizinstudenten nicht mehr nur in Vorlesungen, sondern erstmals auch mit praktischen Übungen im Umgang mit Menschen, deren Leiden nicht mehr geheilt, sondern nur noch gelindert werden kann: auf dem Feld der Palliativmedizin.
Julian Linnebach schlüpft in den weißen Kittel, der ihn für die nächste Viertelstunde zum Arzt machen wird. Das Patientenzimmer im „Studienhospital Münster“ der Uni-Mediziner, das er betritt, stellt heute das Schlafzimmer seiner Patientin dar. Auf einem kleinen Tisch am Fußende des Bettes steht eine Vase mit Mohnblumen, daneben ein Fläschchen Insulin. Hinter einer verspiegelten Fensterscheibe zum Nebenraum sitzen Linnebachs Kommilitonen und Prof. Dirk Domagk und beobachten, was passiert.
Die Frau im Bett ist ohnmächtig. Sie hat Brustkrebs mit Metastasen im ganzen Körper. Keine Aussicht auf Heilung. Nun hat sie sich Insulin gespritzt, um sich das Leben zu nehmen. Ihr Mann hat den Arzt gerufen. Eine solche Situation ist auch für erfahrene Ärzte fachlich und menschlich anspruchsvoll: Muss man alles tun, um die Frau zurück ins Leben zu holen, das sie offensichtlich beenden wollte – vielleicht mit starken Hirnschäden und ohnehin nur für kurze Zeit, weil es für den Krebs keine Heilung gibt? Und wie geht man am besten mit den Angehörigen um?
Fragen, auf die auch erfahrene Mediziner kein Patentrezept haben, denn jede Situation ist anders. Die Studierenden sollen darauf vorbereitet sein, dass sie als Ärztinnen und Ärzte plötzlich vor ungewohnte und mitunter ethisch unbequeme Entscheidungen gestellt werden können, in denen sie blitzschnell ihr fachliches Wissen auf die richtige Art und Weise mit dem Patienten besprechen müssen – besonders auch in der Palliativmedizin. Diese ist nach einer Änderung der Ärztlichen Ausbildungsordnung ab 2013 bundesweit ein Pflichtfach im Stundenplan der Jungmediziner. Nicht festgelegt hat der Gesetzgeber die Form der Vermittlung; die münsterschen Uni-Mediziner machen sich dafür erneut die Möglichkeiten ihres „Studienhospitals“ zunutze.
Aufgrund der hohen Anforderungen steht das neue Modul Palliativmedizin erst im fünften klinischen – insgesamt also neunten – Semester auf dem Lehrplan. Einerseits lernen die Studierenden in Vorlesungen die medizinischen Grundkenntnisse der Palliativmedizin kennen, zum Beispiel, wie man Schmerzen im letzten Lebensabschnitt lindert und welche rechtlichen Grundlagen es zu Patientenverfügungen gibt. Andererseits richtet die Palliativmedizin den Fokus stark auf die Wünsche, Ziele und das Befinden des Patienten. Damit die Jungmediziner darauf eingehen können, gibt es praktische Übungen im „Studienhospital“ mit speziell ausgebildeten Schauspielern, die die Rolle der Patienten übernehmen.
Die Studenten sollen lernen, mit Unsicherheiten umzugehen und ihre professionelle Rolle zu finden: eine Balance zwischen Empathie und fachlicher Sichtweise. Genau dafür haben Prof. Dirk Domagk und das Team des „Studienhospitals“ die Übungsreihe konzipiert. „Solche Inhalte lassen sich nicht mit Lehrbüchern vermitteln. Aber man kann sie in der Praxis ganz gut zeigen, indem die Studenten mit realistischen Darstellungen der Krankheitsbilder durch Simulationspatienten konfrontiert werden“, meint Domagk.
In Kleingruppen erleben die Studenten die Fälle, die Domagk und seine Kollegen aus der eigenen Berufspraxis rekonstruiert haben. Einer der Studenten bekommt die Rolle des Arztes und muss – auf sich allein gestellt – in die unbekannte Situation einsteigen. Er weiß lediglich, welche schreckliche Diagnose er dem Simulationspatienten mitteilen muss. Fünf Kommilitonen und jeweils ein Dozent beobachten vom Nebenraum aus das gesamte Gespräch und machen sich Notizen.
„Natürlich wissen alle Beteiligten hier, dass die Situationen nicht echt sind. Die Szenen sollen aber realistisch wirken – und das tun sie auch: Die emotionale Betroffenheit bei den Studenten und Schauspielern ist groß bei diesen Gesprächen, in denen es ja wirklich um existenzielle Dinge geht“, erklärt Janina Sensmeier, die als Psychologin am Studienhospital arbeitet. Durch die Aufteilung in Kleingruppen können die Studierenden besonders intensiv durch die Dozenten und die Psychologin betreut werden. „Häufig sind die Studenten oder die Schauspieler auch durch die erlebten Situationen sehr betroffen. Dann können sie jederzeit zu mir kommen“, betont Sensmeier. Die gesamte Gesprächsszene, die als Video mitgeschnitten wird, und das schriftliche Feedback der Kommilitonen können die Studenten außerdem mit nach Hause nehmen, um alles noch einmal in Ruhe Revue passieren zu lassen. Wenn sich daraus Fragen und Gesprächsbedarf ergeben, steht die Bürotür der Psychologin für ein Coaching-Treffen offen.
Zumindest heute war Linnebachs Hausbesuch bei der Koma-Patientin also nur ein Rollenspiel zu Übungszwecken. Prof. Dirk Domagk und die Studenten von nebenan kommen ins Zimmer und stellen sich neben das Bett, in dem sich die bis gerade eben ohnmächtige Patientin aufsetzt und sich erst einmal herzhaft streckt. Das Feedback der Studenten bringt eine lebhafte Diskussion in Gang: Wie wäre die juristische Perspektive auf die Situation gewesen? Wie kann man als Arzt eine Lösung finden? Müsste man in diesem Fall versuchen, die Patientin wiederzubeleben – auch wenn der Ehemann dagegen ist? Der Schauspieler, der gerade noch der Ehemann der Koma-Patientin war, berichtet aus seiner Perspektive, wie er das Gespräch erlebt hat.
Am Ende ergreift Prof. Domagk das Wort. Es gebe eben keinen Königsweg in einer solchen Situation, aber der Student habe genauso reagiert, wie der Arzt, der diesen Fall beigesteuert hat. Und auch durch Gestik lasse sich Empathie vermitteln, schärft Domagk seinen Studenten ein. Linnebach habe der Koma-Patientin zum Abschied die Hand auf den Arm gelegt: „Das hat eine große Wirkung für den Angehörigen.“
Geschafft – Julian Linnebach kann den Arztkittel ausziehen und vorerst wieder „nur“ Student sein. „Es war schon sehr anstrengend, besonders das Angehörigengespräch“, räumt er ein, aber die Spielszenen im Studienhospital seien ein gutes Training – schließlich könne ihm so etwas später ja auch in der Realität passieren.

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