Wie man der Wahrheit nahekommt: WWU-Alumnus Dr. Rüdiger Wilmer bereitete Polizisten auf Verhöre und Geiselnahmen vor
Münster (mfm/sw) – Drei Geiselnahmen miterlebt zu haben, können nicht viele von sich behaupten - Dr. Rüdiger Wilmer schon. Und das weder als Opfer noch als Täter oder Polizist – sondern als Psychologe. In seinen zehn Jahren an der Landeskriminalschule NRW hat der 60-Jährige so einiges erlebt, womit er vor rund 30 Jahren niemals gerechnet hätte, als er sein Psychologiestudium an der Universität Münster (WWU) abschloss. Durch Zufall kam er an die Ausbildungsstätte in Neuß, wo er jahrelang Polizisten auf Extremsituationen vorbereitete.
Polizeipsychologe: Schnell kommen einem Szenen aus TV-Krimis in den Kopf, in denen Beschuldigten in dunklen, sterilen Befragungsräumen die Wahrheit entlockt wird. So weit hergeholt ist das nicht – schließlich ist es Wilmers Aufgabe, durch bestimmte Vernehmungstechniken das tatsächliche Geschehen ans Licht zu bringen. „Allerdings mache ich das nicht selbst. Nur Kriminalbeamte dürfen vernehmen, mein Job ist es, sie darauf vorzubereiten“, sagt der Befragungsexperte – und bedauert das: „Manchmal hätte ich schon gerne die Seite gewechselt und selbst die Gespräche geführt“, schmunzelt er. „Natürlich gibt es Momente, in denen man denkt, man würde es selbst besser machen“. Unter dem Strich ist er froh über seinen Beruf – und seine Rolle als Trainer.
Ein Griff in den „psychologischen Werkzeugkasten“ fördert die besten Tricks zutage, an die Wahrheit zu gelangen – Wilmers Aufgabe ist es, den Kriminalbeamten diese Werkzeuge in die Hand zu geben. Auch hier zeigen sich schnell Unterschiede zwischen Realität und Fiktion: Die bekannte Methode „Good cop, bad cop“ bewährt sich tendenziell nicht – oder zumindest nicht in dem Maße, wie es viele annehmen. „Die beste Methode ist eigentlich, die Beschuldigten einfach reden zu lassen – ohne sie ständig zu unterbrechen oder Fragen zu stellen. So kommt in der Regel am meisten ans Licht“, erklärt Wilmer und meint damit das sogenannte „Kognitive Interview“, das auf Fisher & Geiselman zurückgeht.
Dass Geiselnahmen anders ablaufen als im „Tatort“ am Sonntagabend, findet der Westfale alles andere als verwerflich: „Klar ist im Fernsehen mehr ‚Action‘ bei einer Geiselnahme. In der Realität läuft das alles langsamer ab, alle müssen Ruhe bewahren“, erklärt der Diplompsychologe. Aber ein „Tatort“ habe auch gar nicht den Anspruch, die Realität abzubilden: „Der soll einfach unterhalten“. In seiner Zeit als Polizeipsychologe hat Wilmer selbst drei Geiselnahmen miterlebt. „Zum Glück“, so der Unternehmer, „kann ich nicht noch spannendere Geschichten erzählen“. Für den Fall der Fälle wäre er aber vorbereitet: „Der erste und wichtigste Schritt ist immer herauszufinden, wer da überhaupt vor einem steht. Wer ist das, was haben wir für Informationen über diesen Menschen, gibt es enge Kontaktpersonen – all das müssen wir herausfinden, um möglichst positiv auf den Geiselnehmer Einfluss nehmen zu können“, erklärt er.
Von einer Art „Berufskrankheit“ kann sich auch Dr. Wilmer nicht freisprechen: „Klar hat man eine Art ‚Monitor‘ und erkennt schneller, wann jemand lügt. Das muss man in der Freizeit ausblenden, sonst wird es ermüdend – für mich und meine Freunde“, schmunzelt der 60-Jährige. Seine Tricks, die Wahrheit aus Menschen hervorzuholen, wendet er nun in Seminaren und Befragungstrainings für Unternehmen an: 2005 machte Wilmer sich selbstständig und spezialisierte sich auf Befragungstrainings für Ermittler und Prüfer; es geht vor allem um Mitarbeiterkriminalität, Verhandlungstechniken, Deeskalationsstrategien und Compliance. Von Deeskalation versteht er was – schließlich war diese nicht nur bei Geiselnahmen das oberste Gebot. Nach zehn Jahren wurde der Freiberufler zum geschäftsführenden Gesellschafter der Beyer & Wilmer Seminare GmbH, wo er bis heute tätig ist.
Nachdem Dr. Rüdiger Wilmer 1991 sein Psychologiestudium abgeschlossen hatte, arbeitete er vier Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Medizinischen Fakultät der WWU und wurde dort auch promoviert, so dass er sich zu den Alumni der Unimediziner zählen kann. Der gebürtige Westfale hatte schon immer ein besonderes Interesse an der medizinischen Didaktik – kein Wunder, dass der Diplompsychologe seine Doktorarbeit am Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten geschrieben hat. Beyer & Wilmer ist zwar im Sauerland ansässig, seine Wohnung hat der Chef jedoch im Münsterland und ging somit „back to the roots“. „Münster ist eine großartige Stadt, die ich immer noch oft und gerne besuche. Ich müsste lange überlegen, ob mir eine andere besser gefällt“, erzählt er. Da ist es fast schon ein Glück, dass Wilmer coronabedingt viele Onlinekurse gibt und viel Home-Office macht – so kann der Psychologe dort arbeiten, wo er das am liebsten tut: zuhause in Greven.
Text: Stella Willmann
(Mit diesem Bericht setzt der Alumni-Verein „MedAlum“ der Medizinischen Fakultät Münster seine Reihe von Porträts ungewöhnlicher „Ehemaliger“ fort. Basis der Serie ist das Absolventenregister von MedAlum.)